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Keimzellen

Wenn man von Keimzellen spricht, meint man bei allen höheren tierischen Lebewesen die Spermien und Eizellen. Sie sind die Voraussetzung für Fortpflanzung und Evolution. Das meiste Wissen über die Eigenschaften und Funktionsweisen von Keimzellen bei Säugetieren stammt aus Experimenten mit Mäusen. Es gibt jedoch große Unterschiede zwischen den Keimzellen von Mäusen und von Primaten, zu denen auch die Affen und der Mensch gehören. Daher untersuchen wir Eigenschaften der Keim- zellen von Primaten und ihre Entwicklung (sowohl in ihrer natürlichen Umgebung im Gewebe als auch in Zellkultur).

(c) Stammzellbiologie
Immunfärbung einer Kolonie embryonaler Stammzellen: das Protein LIN28 (grüne Färbung) ist für embryonalen Stammzellen wichtig. Zellkerne wurden mit blauem Farbstoff sichtbar gemacht.
(c) Stammzellbiologie
Auch in embryonalen Keimzellen ist das Protein LIN28 im histologischen Gewebeschnitt spezifisch nachweisbar (braune Färbung). Umliegende somatische Zellen, hier blau gefärbt, haben kein LIN28-Protein.

Säugetierhoden produzieren jeden Tag Millionen von Spermien. Neben dem Knochenmark gehören sie damit zu den Organen mit der höchsten Zellteilungsrate. Stammzellen im Hoden, die die Produktion dieser enormen Menge an Spermien ermöglichen, heißen spermatogoniale Stammzellen. Wie andere adulte Stammzellen sind sie einerseits in der Lage, sich selbst zu vervielfältigen und damit den Vorrat an Stammzellen zu erhalten, andererseits können sie Spermien produzieren. Interessanterweise weisen diese spermatogonialen Stammzellen und ihre Vorläufer, die primordialen Keimzellen und Gonocyten, einige Merkmale auf, die sonst nur pluripotenten Stammzellen zugeschrieben werden. Wir untersuchen diese zellulären und genetischen Ähnlichkeiten zwischen pluripotenten und Keimbahn-Stammzellen.

Querschnitt durch ein Samenkanälchen im Hoden eines Rhesusaffen. Die gesamte Länge aller Samenkanälchen in den Hoden einen Mannes beträgt zwischen 500 und 1000 Meter. In den Samenkanälchen werden mit Unterstützung durch weitere Zelltypen fortlaufend die Spermien aus Keimzellvorstufen produziert. Abbildung: Rüdiger Behr/Jana Wilken
Querschnitt durch ein Samenkanälchen im Hoden eines Rhesusaffen. Die gesamte Länge aller Samenkanälchen in den Hoden eines Mannes beträgt zwischen 500 und 1000 Meter. In den Samenkanälchen werden mit Unterstützung durch weitere Zelltypen fortlaufend die Spermien aus Keimzellvorstufen produziert. Abbildung: Rüdiger Behr/Jana Wilken

 

Der Hoden hat mehrere sehr wichtige Funktionen. Zum einen produziert er das männliche Geschlechtshormon Testosteron, das für die Funktion des Hodens selbst, aber auch für andere Fortpflanzungsorgane, der Verhinderung von Osteoporose (Knochenerweichung) sowie die normale Funktion weiterer Organe notwendig ist. Zum anderen ist der Hoden für die Evolution von Säugetierarten einschließlich des Menschen notwendig. Dafür werden im Hoden laufend aus Stammzellen über verschiedene Zwischenstadien reife Fortpflanzungszellen – Spermien – produziert. Etwa 1000 pro Sekunde bei einem gesunden Mann – und das praktisch ein Leben lang.

Das Organ der Evolution der Säugetiere

Damit ist der Hoden eine auf höchste Effizienz und gleichzeitig höchste Ausdauer getrimmte „Maschinerie“ zur Produktion von Spermien. Die Bildung von Spermien aus den Stammzellen wird Spermatogenese genannt. Interessanterweise weist der Hoden trotz seiner für den Fortbestand aller Säugetierarten grundlegenden und essentiellen Funktion im Vergleich zu anderen Organen ein extrem hohes evolutionäres Tempo auf: die molekulare, zelluläre und gewebliche Feinstruktur der Hoden und die Spermatogenese selbst entwickeln sich bei Säugetieren sehr schnell. Ein Grund dafür ist vermutlich der evolutionäre Druck auf die Männchen, in der Fortpflanzung gegen Konkurrenten erfolgreich zu sein.

Wichtig ist dabei aber nicht nur, dass viele Spermien produziert werden, sondern auch, dass jedes Spermium nach Durchlaufen einer keimzelltypischen Zellteilung, der Meiose, eine individuelle Kombination der Erbanlagen der Eltern desjenigen aufweist, in dessen Hoden die Spermien produziert werden. Wenn ein Spermium dann eine Eizelle befruchtet, die ebenfalls eine einzigartige Neukombination der Erbanlagen aufweist, entsteht wieder ein neues Individuum mit seiner eigenen einmaligen Kombination von Erbanlagen, die die Entwicklung aller Organe des Menschen oder Tieres steuert. Dieser Mechanismus alleine würde aber nur eine Durchmischung der schon vorhandenen Erbinformation auf einem schon bestehenden Level ermöglichen. Die Evolution testet aber immer wieder ganz Neues.

Spielwiese für Veränderungen der Erbinformation

Dafür ist der Hoden maßgeblich zuständig. Er produziert in individuellen Keimzellen immer wieder neue Gene, baut die vorhandene Erbsubstanz um und spielt sozusagen mit der Erbinformation. Diese neuen Erbinformationen können dann, wenn sie sich in dem gezeugten Individuum der nächsten Generation vorteilhaft auswirken, eine ganz neue Qualität des Individuums hervorbringen. Unser großes menschliches Gehirn, unser aufrechter Gang, unsere gute Feinmotorik der Finger, Teile unseres Verhaltens und vieles mehr sind durch die Neukombination sowie Neuentstehung von Erbinformation in Keimzellen entstanden.

Für die Evolution eines Säugetiers sind also nur die Veränderungen der Erbanlagen in Keimzellen von Bedeutung – die in den Körperzellen dagegen nicht. Neben dieser grundlegenden evolutionären Funktion der Keimzellen auf organismischer und Art-Ebene sind die Keimzellen aber auch selbst einem Evolutionsdruck ausgesetzt. Je nach Paarungssystem, zum Beispiel feste lebenslange Partnerschaften oder lockere Gruppen mit vielen konkurrierenden Paarungspartnern, haben sich Spermien angepasst. So können unter anderem Größe, Form, Geschwindigkeit und Lebensdauer der Spermien optimiert werden, um erfolgreich eine Eizelle zu befruchten. Die Erbinformation der Spermien ist also nicht nur einem Selektionsdruck auf der Ebene des gesamten Organismus unterworfen, sondern auch im Hinblick auf die Fitness der Spermien selbst.

 

Murat F, Mbengue N, Winge SB, Trefzer T, Leushkin E, Sepp M, Cardoso-Moreira M, Schmidt J, Schneider C, Mößinger K, Brüning T, Lamanna F, Belles MR, Conrad C, Kondova I, Bontrop R, Behr R, Khaitovich P, Pääbo S, Marques-Bonet T, Grützner F, Almstrup K, Schierup MH, Kaessmann H (2022): The molecular evolution of spermatogenesis across mammals.
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False-positive antibody signals for the pluripotency factor OCT4A (POU5F1) in testis-derived cells may lead to erroneous data and misinterpretations.
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Eildermann K, Aeckerle N, Debowski K, Godmann M, Christiansen H, Heistermann M, Schweyer S, Bergmann M, Kliesch S, Gromoll J, Ehmcke J, Schlatt S, Behr R (2012):
Developmental expression of the pluripotency factor SAL-Like Protein 4 in the monkey, human and mouse testis: restriction to premeiotic germ cells.
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Eildermann K, Gromoll J, Behr R (2012):
Misleading and reliable markers to differentiate between primate testis-derived multipotent stromal cells and spermatogonia in culture.
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